(Auszug aus dem Buch „Stallwang – Geschichte und Geschichten einer Bayerwaldpfarrei“ von Erich Menacher, 2021)
Im Zusammenhang mit dem Kriegsende kommt es im Frühjahr 1945 zu einer Serie von dramatischen und tragischen Ereignissen in Stallwang und Umgebung. SS-Schergen treiben vier Kolonnen von Häftlingen aus dem KZ Flossenbürg in der Opferpfalz, dessen Gräuel vor den anrückenden Alliierten verschleiert werden sollen, in Richtung Oberbayern. Ziel des Todesmarsches ist das Konzentrationslager Dachau, als Verpflegung bekommt jeder ein kleines Stück Brot mit auf den Weg. Viele der insgesamt 16.000 Gefangenen waren bereits vorher aus KZs im Osten und Norden, u.a. auch aus Buchenwald, zu Fuß nach Flossenbürg getrieben worden.
Eine dieser kilometerlangen Kolonnen mit etwa 3000 Gefangenen durchquert Stallwang am 23. April, zwei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner. Diejenigen Bewohner, die den schier endlosen Zug miterlebt haben, erzählen von völlig erschöpften, ausgemergelten, heruntergekommenen, geradezu geisterhaften Gestalten, die sich unter dem Gebrüll der Soldaten, bewacht durch scharfe Hunde, mühsam vorwärtsquälen. Trotzdem versuchen einige Verzweifelte, die Unübersichtlichkeit einer geschlossenen Ortschaft mit Häusern, Schuppen und Fahrzeugen für eine Flucht zu nutzen. Ein junger Mann scheint es beinahe geschafft zu haben, als ihn ein SS-Mann entdeckt und sofort, ohne Warnung, auf ihn schießt. Der Schuss verletzt den Oberschenkel, der Getroffene kann sich aber weiterschleppen und versteckt sich im Strohstadel des Kerscher-Anwesens im Ortszentrum. Unglücklicherweise werden Kinder auf den stöhnenden und stark blutenden Mann aufmerksam. Sie bekommen Angst und machen Lärm, schließlich landet die Nachricht über die örtlichen Gendarmen bei der SS. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, der Mann wird von einem jungen SS-Mann aus dem Stadel geholt. Mit vorgehaltener Pistole treibt er den Unglücklichen durch den Garten Richtung Kinsach. Etwa 100 m unterhalb des Dorfes richtet er ihn mit einem Genickschuss hin - in Anwesenheit mehrerer Kinder, die aus Neugier hinterhergelaufen waren.
Auch ein Stallwanger Bürger wird an diesem Tag zum Mörder. Am unteren Ende des Kirchbergs gibt es zu dieser Zeit ein breites Kanalrohr unter der Straße. Unbeschwerten Kindern hatte es über viele Jahre als Spielplatz gedient, aber an diesem Tag packen mehrere Gefangene aus der Häftlingskolonne die Gelegenheit beim Schopf und flüchten sich in das Kanalrohr. Die Flucht scheint zunächst unbemerkt zu bleiben, der Konvoi zieht weiter, auch den SS-Schergen ist der Vorfall entgangen.
Allerdings gibt es auch unter den Stallwanger Einwohnern glühende Nazis, die voller Hass auf die Gefangenen schauen. Einer von ihnen muss die Flucht in den Kanal beobachtet haben. Er holt seine private Waffe hervor, nähert sich dem Kanal und gibt mehrere Schüsse in das Rohr ab. Heraustropfendes Blut bestätigt alsbald den Erfolg seiner abscheulichen Tat. Die Kinder wagen von diesem Tag an nicht mehr, in diesem Kanalrohr zu spielen. Die Mordtat wird nicht ernsthaft gesühnt. Der Täter (dem Autor und vielen Stallwangern namentlich bekannt) wird zwar als Nazi-Anhänger beim Einmarsch der Amerikaner verhaftet und interniert (angeblich sogar beim Abtransport vorne auf einen Panzer gebunden). Schon nach kurzer Zeit aber wird er wieder freigelassen und kommt nach Stallwang zurück, wo er 1947 stirbt.
Erfolgreiche Flucht durch mutige Stallwanger Heldinnen
Ein anderer Häftling, ein junger Mann aus Polen, hat mehr Glück. Er kann sich unbemerkt von der Kolonne absondern, sich vorübergehend im Kinsachbach oberhalb der "Bäckermühle" unter überhängendem Gestrüpp verbergen und schließlich in den Schuppen des "Zwicklin"-Hauses oberhalb der "Bäckermühle" eindringen. Dort wird er von der Hausherrin entdeckt, aber sie riskiert ihr eigenes Leben und verrät ihn nicht. Er scheint schnell wieder zu Kräften zu kommen, bleibt noch einige Zeit im Haus und entwickelt ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Retterin. Ihr Haus wird zur Anlaufstelle für einige weitere polnische Staatsangehörige, die u.a. bis zum Kriegsende als Zwangsarbeiter in der Gegend eingesetzt sind.
Zwei weiteren Häftlingen gelingt ebenfalls in Stallwang die Flucht. Beim Vorbeimarsch am Geier-Haus in der Ortsmitte (heute verschwunden) können sie unbemerkt in den Stall entweichen, sie verkriechen sich dort im Born vor den Kühen und bedecken sich mit Heu. Die Bäuerin Maria Guggeis, die sie dort später entdeckt, wirft noch mehr Heu darüber, so dass die beiden auch einer kurz darauf in den Stall kommenden SS-Patrouille verborgen bleiben. Nach Einbruch der Dunkelheit fliehen die beiden in Richtung Schönstein, ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.
Kurz hinter Stallwang gelingt es offenbar einer größeren Gruppe von Häftlingen, sich unbemerkt abzusetzen. Sie verstecken sich im Stadel des Kasparbauernhofs (Bornschlegl) in Emmersdorf. Über ihr weiteres Schicksal ist ebenfalls nichts bekannt.
Bestattung und Ahndung
Johann Vielreicher, der nach dem Tod des Vaters und in Abwesenheit seines in Norwegen stationierten Bruders Georg die Bäckermühle betreibt, wird von den Nazi-Schergen gezwungen, mit einem Wagen durch den ganzen Ort und bis zur Kinsachmühle zu fahren und alle Leichen "einzusammeln". Er kommt mit 24 toten Häftlingen zurück, diese werden unter unwürdigsten Umständen in einem Massengrab außerhalb des Dorfes bei Steinberg, etwas abseits der Straße nach Cham, vergraben. Gerüchteweise gibt es noch ein zweites Massengrab, in der Nähe des Guggeis-Anwesens am Riesholz, dafür konnten allerdings keine Belege gefunden werden.
Sechs Wochen nach den grausigen Geschehnissen veranlassen die amerikanischen Befehlshaber, dass die mittlerweile inhaftierten SS-Männer die verscharrten Leichen der getöteten Häftlinge wieder ausgraben müssen. Der entsetzliche Verwesungsgeruch, der während der Exhumierung freigesetzt wird, wird vom Wind verteilt und ist noch weit außerhalb des Dorfes auf den Feldern kaum erträglich, er bleibt manchen Zeitzeugen ein Leben lang in Erinnerung. Die sterblichen Überreste werden in Särge gebettet und erhalten am 18. Juni 1945 nach einem Trauergottesdienst ein würdiges Begräbnis an der Nordseite des Stallwanger Friedhofs.
1959 werden die Gebeine der ermordeten KZ-Häftlinge noch einmal exhumiert und auf den Ehrenfriedhof in Flossenbürg verbracht.
Und das Ganze noch einmal
Von einem weiteren, ähnlichen Drama, das sich in diesen Tagen nur zwei Kilometer südlich des Orts abspielt, berichtet uns Alois Guggeis, in Stallwang gebürtig und damals im Dienst in Rattiszell:
„Die KZ-Häftlinge kamen wohl aus dem KZ Flossenbürg über Pilgramsberg in Richtung Rattiszell. Kurz vor Rattiszell wurden 23, die am Ende ihrer Kräfte waren, am Waldrand erschossen. Fünf von ihnen wurden genau an der Stelle des Gedenksteins aufgefunden. Es war am Tag, als die Amerikaner kamen. Alois Guggeis fand die Toten, unter ihnen zwei mit Lungenschuss. Einer von ihnen lebte noch und schaute Alois zum Erbarmen an. Dieser Blick des Sterbenden war für Alois Guggeis Beweggrund, den Gedenkstein aufzustellen. Die fünf Toten wurden mit dem Pferdefuhrwerk nach Rattiszell gebracht und dort beerdigt. Die anderen wurden am Waldrand provisorisch eingegraben und später ebenfalls in Rattiszell beigesetzt.“
Die Ereignisse verfolgen Alois Guggeis ein Leben lang. 2005 stiftet er den abgebildeten Gedenkstein. Der Standort befindet sich nahe der B20, an der Abzweigung der Straße Richtung Haunkenzell, nach etwa 100m rechts in der Zufahrt zum sog. Menauerholz.
50 Jahre nach den dramatischen Ereignissen rund um die "KZ-Todesmärsche", bei denen allein in den Landkreisen Straubing und Bogen mehrere hundert Häftlinge ermordet wurden, wird im April 1995 in der Grünanlage am Hagen in Straubing ein Mahnmal errichtet, das an diese grausamen Vorfälle erinnern soll.
Bereits im März 1954 kommt eine Kommission aus Belgien nach Stallwang, um Erkundigungen über ermordete Häftlinge belgischer Nationalität einzuziehen. Ob sie noch etwas Greifbares erfahren konnte, ist nicht bekannt.